4 Fragen an den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Dr. Felix Klein

4 Fragen an den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Dr. Felix Klein

„Es ist eine massive Verbreitung von Desinformation festzustellen“

Von Karolina Pajdak

Berlin – Am 7. Oktober 2023 überfielen tausende Kämpfer der radikalislamischen Hamas Israel, sie ermordeten mehr als 1200 Menschen, sie entführten mehr als 250 in den Gazastreifen, darunter viele Kinder. Israel antwortete mit einer massiven Luft- und Bodenoffensive. Seitdem demonstrieren in vielen europäischen Städten Bürgerinnen und Bürger für Frieden, doch es brennen auch israelische Flaggen auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Die Zahl antisemitischer Vorfälle hat auch in Deutschland deutlich zugenommen. „We Europeans“ sprach darüber mit dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein.

We Europeans: Dr. Klein, haben wir in Europa ein Antisemitismus-Problem?

Dr. Felix Klein: Judenfeindschaft reicht als der wohl älteste bekannte Hass der Geschichte in Europa bis in die Antike zurück. Mittelalterlicher, religiös geprägter Judenhass entstand im Zuge der Abgrenzung des entstehenden Christentums von der “Vaterreligion” des Judentums, gegen das rebelliert wurde, während die gemeinsamen Ursprünge verdrängt wurden. Dabei werden antisemitische Klischees und Stereotype oft nicht als solche bemerkt, sondern als vermeintliches Wissen wahrgenommen und sozial weitergegeben: “Aber Juden sind doch reich”, sie “zahlen keine Steuern” oder seien “geldgierig und besonders mächtig, das weiß doch jeder!”. Ihre Rachsucht stehe doch schon im Alten Testament: “Auge um Auge, Zahn um Zahn”. Insofern ist Antisemitismus in Europa seit jeher fest verwurzelt. In den vergangenen Jahren hat die Gewalt gegen Juden in Europa zugenommen. Das zeigt auch eine Umfrage Europäischen Agentur für Grundrechte, wonach neun von zehn in Europa lebenden Jüdinnen und Juden (89 %) der Ansicht sind, dass der Antisemitismus in ihrem Land zugenommen hat. 40 Prozent der befragten Juden der gleichen Umfrage befürchten, körperlich angegriffen zu werden, und verbergen daher Symbole, die sie als Juden identifizieren könnten. Insofern sage ich: ja, wir haben in Europa ein Antisemitismusproblem. Deshalb setze ich mich sehr dafür ein, die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene weiter zu intensivieren und zu verstetigen.

We Europeans: Wie hat sich die Lage seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 verändert?

Dr. Felix Klein: In Folge des Angriffs zeichnet sich ein massiver Anstieg von israelbezogenem Antisemitismus in Deutschland ab: Allein 994 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu dem Terrorangriff der Hamas hat der Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e. V. zwischen dem 7. Oktober bis zum 9. November dokumentiert. Das ist ein Zuwachs von 320 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Seit dem 7. Oktober berichten die RIAS-Meldestellen von einem anhaltend hohen Meldeaufkommen. Die RIAS-Meldestellen erfassen bundesweit antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle mit dem Ziel einer einheitlichen Dokumentation sowie um das Dunkelfeld zu erhellen. Das ist eine wichtige Arbeit, darum habe ich den Aufbau des RIAS Bundesverbandes aus meinen Mitteln unterstützt.

Auch das Bundeskriminalamt hat seit dem Terrorangriff der Hamas aktuell etwa 700 antisemitische Straftaten erfasst, welche im Kontext des Nahostkonflikts begangen wurden. Davon lassen sich etwa 400 dem Phänomenbereich „Ausländische Ideologie“ zuordnen.

We Europeans: Welche Rolle spielen Fake-News im Zusammenhang mit Antisemitismus und dem Hamas-Angriffs auf Israel?

Dr. Felix Klein: Im Zuge der terroristischen Angriffe der Hamas auf Israel und der Reaktion Israels auf die Terrorangriffe der Hamas ist eine massive Verbreitung von Desinformation festzustellen. Falsche und irreführende Informationen zu den aktuellen Entwicklungen in Israel und Gaza werden insbesondere in den sozialen Medien verbreitet.

Die vom Bundesinnenministerium geleitete Task Force gegen Desinformation, die kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gegründet wurde und einen engen ressort- und behördenübergreifenden Austausch zur Erkennung und Abwehr von Desinformation sicherstellt, befasst sich intensiv mit den im Zusammenhang mit dem Krieg im Nahen Osten verbreiteten Falschinformationen.

We Europeans: Sind Sprüche wie “From the river to the sea – Palestine will be free” oder “Free Palestine” antisemitisch?

Dr. Felix Klein: Jeder darf in Deutschland frei seine Meinung äußern und friedlich demonstrieren. Dies garantiert das Grundgesetz in Art. 5 und Art. 8. Diese Meinungs- und Demonstrationsfreiheit steht allen Menschen zu – ganz gleich ob sie derzeit um israelische zivile Opfer oder um zivile Opfer im Gazastreifen trauern. Was dabei alle beachten müssen: Versammlungen sind nur geschützt, wenn sie „friedlich und ohne Waffen“ stattfinden.

Antisemitismus gilt dabei grundsätzlich zunächst als Meinung und ist als solche nicht strafbar. Antisemitismus ist dann strafbar, wenn strafrechtlich relevante Taten verübt werden, also wenn gegen das Strafgesetz verstoßen wird. So ist etwa die Leugnung oder Relativierung des Holocaust strafbar. Die Aufforderung, Israels Existenz gewaltsam auszulöschen kann als Volksverhetzung gewertet und damit strafrechtlich geahndet werden. Insofern ist der Slogan „From the river to the sea – Palestine will be free” nicht nur antisemitisch, sondern könnte auch strafbar sein.

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