Autorin: Magdalena Scharf
Als ich nach dem elendig langen Flug, der mich und meine Familie von Berlin nach Porto Alegre (Südbrasilien) führte, die warme, schwüle, nach Jacarandá duftende Luft einatmete, überkam mich sofort ein tiefes Gefühl der Vertrautheit.
Ich bin in den 1980er Jahren in Porto Alegre aufgewachsen und habe dort die letzten Jahre der Militärdiktatur miterlebt, die von 1964 bis 1985 dauerte. Während dieser 21 Jahre wurden Gewerkschafter, Geistliche, Akademiker*innen und die winzige linke Guerilla des Landes brutal verfolgt.
Es war der 30. Dezember 2022, zwei Tage vor der Amtseinführung des nach zwölf Jahren wiedergewählten Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva. Die ersten zwei Amtszeiten waren 2003 bis 2011. Im Jahr 2018 wurde er wegen angeblicher Korruption inhaftiert, was er immer bestritt und darauf beharrte, dass er das Opfer eines politischen Rachefeldzugs sei. Seine politischen Rechte wurden vom Obersten Gerichtshof im Jahr 2021 wiederhergestellt. Später im selben Jahr wurde der Richter Sergio Moro, der das Gerichtsverfahren zur Verurteilung Lulas geleitet hatte und später Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit in der Regierung von Jair Bolsonaro wurde, vom Obersten Bundesgericht für befangen erklärt.
Nach den hart umkämpften und extrem polarisierten Wahlen im Oktober war ich neugierig, was die Menschen von dem (neuen? alten? einzigen!) brasilianischen Präsidenten erwarten, der die Wahl gegen einen amtierenden Präsidenten gewonnen hat. Auf dem Weg zu unseren Freunden kam ich mit unserem Taxifahrer ins Gespräch, offen, herzlich, warm – so typisch für dieses Land. Nicht umsonst sagt man Brasilianer*innen nach, sie seien die herzlichsten Menschen der Welt.
Nach ein paar Minuten fragte ich den Taxifahrer vorsichtig, was er von der baldigen neuen Regierung hält, einer Koalition zwischen der linken Arbeiterpartei und Mitgliedern neoliberaler Mitte-Rechts-Parteien. Er spuckte Gift und Galle: “Dieser Typ wird die Armen wieder mit Wohltätigkeitsprogrammen überschwemmen. Man sollte diesen nutzlosen Haufen von Vagabunden lieber an die Wand stellen.” (Als Lula 2003 Präsident wurde, gab es ein beträchtliches Wirtschaftswachstum und Millionen Menschen wurden dank der staatlichen Sozialprogramme aus der Armut geholt.) Angesichts meines offensichtlichen Schocks wiegelte er ab: “Oder sie wenigstens sterilisieren.” Für den Rest der Fahrt wechselte ich das Thema und wir unterhielten uns lieber über seine deutschen Vorfahren.
Seine Kommentare spiegeln die hasserfüllten Slogans des gerade noch amtierenden Präsidenten Bolsonaro wider. Bolsonaro war 2018 gewählt worden, nach einem Wahlkampf, in dem er mit populistischer Rhetorik gegen das Establishment, die Arbeiterpartei, Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, Schwarze, Indigene und Umweltschutz wetterte und als starker Mann auftrat, der versprach, Kriminalität und Korruption zu bekämpfen – ein Versprechen, das er eklatant brach. Während seiner Amtszeit führte er ideologische Kämpfe, verstärkte soziale, kulturelle und gesellschaftliche Gräben. Er kannte nur zwei Gruppen: die vermeintlich ehrlichen, hart arbeitenden Menschen auf der einen Seite und die korrupte Elite, die mit schwarzen Aktivisten, der indigenen Bevölkerung, der LGBTIQ*-Community und Umweltschützer*innen unter einer Decke steckt, auf der anderen. (Brasilien gilt z.Z. als das tödlichste Land für Umweltaktivisten.)
Ein weiteres Merkmal Bolsonaros ist, wie das so vieler anderer Rechtspopulisten, die Beleidigung seiner Gegner. Es gibt eine lange Liste Zitate des „Trump der Tropen“. Zu einer weiblichen Abgeordneten sagte er, sie sei es nicht wert, vergewaltigt zu werden, „sie sei zu hässlich“. Afrikanische Geflüchtete bezeichnete er als „Abschaum der Menschheit“. Zum Thema Homosexualität sagte er, ihm wäre es lieber, wenn sein Sohn „bei einem Unfall stirbt, als mit einem Kerl mit Schnurrbart aufzutauchen“. In Bezug auf Militärdiktatur sagte er, dass das Militär nicht weit genug gegangen sei – wenn sie nur dreißigtausend Menschen mehr getötet hätten, wären Brasiliens Probleme mit den Linken gelöst worden. Er erklärte auch: “Ich bin für die Folter, das wissen Sie. Und das Volk ist auch dafür.” Seine grausame Antwort auf die COVID-19-Pandemie, die mit fast siebenhunderttausend gemeldeten Todesfällen nach den USA die zweithäufigste ist, lautete: “Jeder muss eines Tages sterben. Wir müssen aufhören, ein Land von Weicheiern zu sein.”
Ich wusste noch nicht, dass genau am Tag unserer Ankunft in Brasilien der scheidende Präsident Bolsonaro zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit nach Florida abreisen würde, um die offizielle Amtsübergabe an Lula zu vermeiden und damit das übliche demokratische Verfahren zu ignorieren.
Nach dieser ersten Taxifahrt war die erste Woche in Brasilien entspannt. Wir verbrachten Zeit mit Freund*innen: Künstler*innen, Akademiker*innen, Umweltaktivist*innen. Wir sprachen mit vielen Menschen über ihre Hoffnungen für die Zukunft Brasiliens. Sie hofften auf ein Land sozialer Gerechtigkeit, an dem niemand hungern muss, der Regenwald geschützt wird und die Kluft zwischen Ethnien und Klassen aufgelöst wird.
Nur 10 Tage später wurde mir klar, wie sehr wir in einer Blase durch das Land reisten. Obwohl Bolsonaro Brasilien verlassen hatte, weigerten sich seine Anhänger, seine Niederlage anzuerkennen. Am 8. Januar stürmten Tausende von ihnen, in gelben und grünen T-Shirts und brasilianische Flaggen schwenkend, die brasilianischen Regierungsgebäude, was uns an die Ereignisse in Washington am 6. Januar, zwei Jahre zuvor, erinnerte.
Die neue Regierung reagierte schnell und brachte die Situation innerhalb weniger Stunden unter Kontrolle. Staatsoberhäupter aus Lateinamerika, Nordamerika und Europa verurteilten die Übergriffe und stellten sich hinter die Regierung Lula.
Seitdem kursieren in den sozialen Medien Fake News voller Verschwörungstheorien darüber, wie die linksgerichtete Regierung die Unruhen organisiert habe, um sie Bolsonaro und seinen Anhängern in die Schuhe zu schieben. Die Opferrolle ist das Markenzeichen des echten Trump.
Während wirtschaftliche Faktoren sicherlich eine Rolle beim Aufstieg des Populismus in Brasilien spielen, gab es in der politischen Geschichte Brasiliens, angefangen bei Getúlio Vargas in den 1930er Jahren bis hin zu Lula in den frühen 2000er Jahren, schon immer öffentlichkeitswirksame, charismatische Regierungschefs. Es war für Bolsonaro ein Leichtes, seine politische Strategie auf Populismus zu bauen, wenn auch dieses Mal in einem nationalistischen, chauvinistischen Stil. In einer kürzlich durchgeführten YouGov-Cambridge-Umfrage wies kein Land einen höheren Anteil an Populisten auf als Brasilien.
Die Strategien der Populisten mögen sich zwar ähneln – sie beschuldigen die Eliten der Korruption und preisen gleichzeitig die moralischen Tugenden des Volkes -, doch gibt es große Unterschiede zwischen Lulas linker Politik und Bolsonaros rechtsextremer Agenda. Lulas Anhänger sind tendenziell jünger, multi-ethnisch und einkommensschwächer, mit einem beträchtlichen LGBTQIA+-Anteil; Bolsonaros Anhänger sind älter, “weißer” und wohlhabender. Lula führte eines der größten Sozialprogramme der Welt ein, was zu einer Verringerung von Armut und Ungleichheit und zu einem starken Anstieg des Anteils Schwarzer Studierender an den Universitäten führte. Bolsonaros Regierung hingegen wird international für ihre antidemokratische und umweltfeindliche Politik in gigantischem Ausmaß geschmäht. Eine neue Studie geht davon aus, dass während seiner Amtszeit ca. 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind – ein Ergebnis der Streichung der oben genannten Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro.
Angesichts der jüngsten Entwicklung in Brasilien wird nun befürchtet, dass der Aufstieg von Bolsonaros Populismus Jahrzehnte des Fortschritts rückgängig machen und die Demokratie selbst bedrohen könnte. Seine Bewegung ist nach wie vor stark, und das wird sich höchstwahrscheinlich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern. Lula wird sich sicherlich anstrengen müssen, um den Riss in der brasilianischen Gesellschaft zu kitten, und die Befürchtung, dass der bolsonarismo in vier Jahren mit Macht zurückkehren könnte, ist spürbar.